Wenn vom 5. bis 10. September 2023 die IAA Mobility in München stattfindet, dreht sich dort nicht alles um neue Modelle, sondern es wird auch über die Zukunft der Mobilität, Nachhaltigkeit und Tech gesprochen. Einen Denkanstoß möchte Dipl.-Ing. Konrad Rothfuchs, Vize-Präsident der Hamburgischen Ingenieurkammer-Bau, mit seinem nachfolgenden Beitrag geben. Aus Sicht eines Verkehrsplaners ordnet er die Bedeutung der Verkehrswende ein. Denn über die Verkehswende zu reden, heißt für ihn sich der Diskussion zu stellen, wie eine deutliche Reduktion des CO2-Ausstoßes erreicht werden kann. Er wendet sich dabei auch explizit an den Berufstand, an Ingenieurinnen und Ingenieure.
Ein Denkanstoß: Wir müssen unseren Blick um mehr als 1,5 Grad ändern
Von Dipl.-Ing. Konrad Rothfuchs
Mit dem Pariser Klimaabkommen aus dem Jahr 2015 wurde völkerrechtlich eine Begrenzung der Erderwärmung vereinbart. In Deutschland gibt es seit ein paar Jahren ein Klimaschutzgesetz, das einen Pfad zur Treibhausgasneutralität bis 2045 vorgibt. Schrittweise sollen so die CO2-Emissionen in den verschiedenen Sektoren reduziert werden. Der Verkehrssektor ist einer davon. Der Versuch einer Einordnung aus Sicht der Verkehrsplanung – lückenhaft, aber wichtig!
Es tut sich etwas, aber sind wir, die Gesellschaft als Ganzes und hier besonders auch unser Berufsstand, das Bauingenieurwesen, schnell genug? Ist uns bewusst, welche Konsequenzen unser Nichtstun gerade auf das Klima hat?
Einige Beiträge in der Fachdiskussion (1) weisen auf die anstehende große Aufgabe hin, nur in der Mitte der Planenden und in der täglichen Praxis scheinen die Prozesse unverändert zu sein. Diese Situation hat sicherlich viele Gründe, wie z. B. ein mangelndes Verständnis seitens der Auftraggeber:innen oder kurzfristig angelegte Wirtschaftlichkeitsüberlegungen.
Das ändert sich zurzeit in einem so bemerkenswerten Tempo. Die Veränderungsankündigungen sind teilweise so ambitioniert, dass wir möglicherweise sogar Gefahr laufen könnten „das Kind mit dem Bade“ auszuschütten.
Sogar die Politik hat in vielen Feldern in den letzten Monaten eine erstaunliche Kehrtwende vollzogen. Plötzlich wird ein autoarmes Stadtquartier im politischen kommunalen Kontext nicht mehr belächelt, sondern von fast allen Parteien gefordert.
In der Diskussion fällt jedoch auf, dass viele Gesprächspartner:innen die Ursache für den energisch stattfindenden Meinungsumschwung noch nicht verinnerlicht haben, sondern hauptsächlich in Folge des öffentlichen Drucks den Blick in eine veränderte Zukunftsperspektive wagen.
Das ist auch auf vielen Fachplanungsebenen zu beobachten, so dass der große Zusammenhang als Narrativ nochmals eine besondere Rolle übernehmen muss.
Fünf Argumente und ein Fazit
Warum wir die Verkehrswende nicht nur aus ökologischer Sicht umgehend und sehr konsequent umsetzen müssen:
1. Warum wir den Temperaturanstieg deutlich begrenzen müssen?
Die prognostizierten Folgen haben wir in den letzten Jahren schmerzlich erleben können. Hitze und Dürre, Starkregen sowie ein bevorstehender Anstieg der Meeresspiegel verdeutlichen uns zunehmend die anstehenden Veränderungen. Die damit verbundenen Migrationsströme werden voraussichtlich mit Anstrengungen verbunden sein, die alle unsere bisherigen Berührungen, die wir mit Migration gesammelt haben, voraussichtlich deutlich übersteigen werden. Diese Veränderungen werden uns und den politisch Verantwortlichen zunehmend bewusst, so dass wir von dieser Seite in den kommenden Jahren eine energische Aufforderung zu einem veränderten Handeln erwarten können.
2. Warum unser bisher eingeschlagener Weg nicht ausreicht?
Abb. 1: CO2-Gesamtausstoß um den Zielwert von maximal 1,5°C Temperaturanstieg zu erreichen (Quelle: Eigene Darstellung nach Latif 2022)
Grundsätzlich wird in vielen wissenschaftlichen Abhandlungen die These vertreten, dass die Menschheit ca. 2,8 Milliarden Gigatonnen CO2 emittieren darf, um einen Anstieg der weltweiten Durchschnittstemperatur unter 1,5°C sicherstellen zu können. (2) Dabei ist zu beachten, dass wir seit Beginn der Industrialisierung schon 2,4 Milliarden Gigatonnen emittiert haben und damit nur noch 0,4 Milliarden Gigatonnen als Restkontingent verbleiben, was, wenn wir als Weltgemeinschaft so weiter machen, in 7 bis 8 Jahren aufgebraucht sein wird (vgl. Abb. 1). Bei den errechneten 2,8 Milliarden Giga-Tonnen ist jedoch die Wahrscheinlichkeit den Zielwert zu unterbieten mit 67 Prozent nicht besonders hoch ausgeprägt. Für eine Beurteilung der Situation ist zusätzlich zu berücksichtigen, dass das emittierte CO2 mehrere hundert Jahre benötigt, um sich aus der Atmosphäre wieder zu verflüchtigen und somit als Konstante zu sehen ist.
Die 6 Szenarien zum weltweiten C02-Austoßes
In der Abbildung 2 sind sechs mögliche Temperaturverläufe dargestellt, die von unterschiedlichen Szenarien eines weltweiten CO2 -Ausstoßes, ausgehen. Die Szenarien und ihre Konsequenzen:
Kein klimapolitischer Eingriff
In diesem Szenario macht die Weltgemeinschaft so weiter wie bisher und die derzeit laufenden klimapolitischen Maßnahmen werden ab sofort eingestellt. Dies wird eine weitere Zunahme der Emissionen nach sich ziehen, so dass wir von einem Temperaturanstieg bis zum Jahr 2100 von 4,1 bis 4,8°C ausgehen müssen, was ganze Regionen unbewohnbar machen würde.
Aktuelle klimapolitische Maßnahmen
Das zweite Szenario berücksichtigt alle aktuell verabschiedeten klimapolitischen Maßnahmen auf der Welt, die ergriffen wurden, um den CO2-Ausstoß zu mindern. In diesem Szenario müssen wir mit einem Temperaturanstieg von 2,8 bis 3,2°C rechnen.
Aktuelle klimapolitische Ziele
Sollten alle aktuellen klimapolitischen Ziele, die von der Weltgemeinschaft formuliert wurden, umgesetzt werden, müssen wir immer noch mit einem Temperaturanstieg von 2,5 bis 2,8°C rechnen.
Versprechen aller Länder
Dieses Szenario beschreibt die Versprechungen aller Länder und die damit verbundene Wirkung, die eine Erwärmung von 2,1°C prognostisch zur Folge hätte.
2°C und 1,5°C
Die beiden zusätzlichen Kurven bilden die erforderlichen Emissionsentwicklungen ab, um einen Temperaturanstieg von 2°C bis 1,5°C einhalten zu können. Besonders bemerkenswert ist hierbei, dass das 1,5°C Ziel nur dann einhaltbar scheint, wenn wir ungefähr ab dem Jahr 2060 CO2 aus der Atmosphäre absorbieren und z. B. in den Untergrund verpressen, also eine negative Emissionsbilanz erzielen.
3. Warum pflanzen wir nicht einfach Bäume?
Hier unterliegen wir in der Dimension oft einem Trugschluss, bei dem wir den Bäumen zu viel Speichervolumen für CO2 zutrauen. Im Durchschnitt bindet ein Baum, wenn er ausgewachsen ist, ca. 100g/Tag CO2, so dass die Fahrt mit einem Pkw zum 750 m entfernten Bäcker schon einen Baum zur Kompensation erfordert.
Es herrscht auch der Irrglaube vor, neu angepflanzte junge Bäume brächten einen sofortigen Ausgleich. Erst nach Jahren gesunden Wachstums wird das jedoch der Fall sein.
Der weltweite Waldbestand nimmt seit Jahrzehnten stärker ab als neue Waldflächen entstehen.
Verschiedene wissenschaftliche Studien kommen zu dem Ergebnis, dass der weltweite Waldbestand seit Jahrzehnten stärker abnimmt als neue Waldflächen entstehen. (3) Zu denken sollte uns ebenfalls geben, dass zurzeit China das einzige Land ist, dass eine ernsthafte Aufforstung betreibt, um dem Klimawandel mit dieser Maßnahme Paroli zu bieten.
4. Warum ist es gewagt, ausschließlich auf technische Lösungen zu setzen?
Es wird zunehmend nach Verfahren gesucht, die die Bindung von CO2 aus der Atmosphäre ermöglichen. Die weltgrößte Anlage, mit dem Namen ORCA, die CO2 absorbiert und es so ermöglicht, diese in tiefe Gesteinsebenen zu pressen, steht in Island. Ihre jährlich Filterleistung ist mit 4.000 Tonnen angegeben, was bedeutet, dass wir mit dieser Technologie ca. 100 vergleichbare Anlagen ab sofort jeden Tag bauen müssten, um bei unserem derzeitigen Emissionsverhalten das 1,5°C Ziel noch einhalten zu können. Die zum Betrieb der Anlagen nicht ganz unerheblich dabei benötigte Energie muss natürlich erneuerbar sein. Andere Verfahren werden zurzeit getestet und können in der Zukunft einen entsprechenden Beitrag leisten. Die Wirkung dieses Verfahrens wird jedoch aller Voraussicht nach nur einen geringeren Beitrag zur Reduzierung des CO2-Gehalts darstellen.
Wir werden die angestrebten 15 Millionen E-Fahrzeuge bis 2030 verfehlen.
Ein weiterer Hebel wird in der E-Mobilität gesehen. Viele Fachleute, wie z. B. Ferdinand Dudenhöfer vom CAR-Center Automotive Research in Duisburg, gehen davon aus, dass wir die heute allen Prognosen zugrunde gelegten 15 Millionen E-Fahrzeuge bis zum Jahr 2030 weit verfehlen werden. Die Berechnungen zeigen, dass von einer nur halb so hohen Marktdurchdringung ausgegangen werden muss, was die Erwartungen stark dämpfen würde.
5. Warum ist das unser Problem?
Unsere Verantwortung fängt schon vor über 150 Jahren mit der Industrialisierung an. So zeigt ein Blick auf die kumulierten Emissionen ab dem Jahr 1850, dass Europa und Nordamerika für 50 Prozent des gesamten menschlich gemachten CO2-Ausstoßes verantwortlich sind (vgl. Abb. 3).
Deutschland hätte bei einer gerechten Aufteilung der maximalen Emissionsanteile z. B. noch ein Restbudget, das bei unserem heutigen CO2-Ausstoß in ca. 6,2 Jahren aufgebraucht wäre. Die USA haben dagegen schon heute ihr Kontingent voll ausgeschöpft. China holt zwar in den letzten Jahren beängstigend auf, hat aber bei gleichwertiger Verteilung der Emissionen noch ein sehr viel größeres Restbudget als die westliche Welt. (vgl. Abb. 3: Anteile der kumulierten Emissionen seit 1850 – Quelle: Eigene Darstellung nach Latif 2022)
Auch bei dem jährlichen CO2-Ausstoß pro Kopf liegt Deutschland auf dem 7. Platz mit 10,4 Tonnen/Person und Jahr im Weltranking weit vorne (vgl. Abb. 4: CO2-Ausstoß pro Kopf in Tonnen pro Jahr – Quelle: Bundesumweltamt 2022).
Trotzdem sind wir sicher nicht die größten Emittenten (2 Prozent des weltweiten Ausstoß pro Jahr), wobei der Verkehr in Deutschland „nur“ einen Anteil von ca. 19 Prozent vom gesamten Jahresausstoß zu verantworten hat. Problematisch dabei ist jedoch, dass Deutschland im Verkehrssektor in den letzten 30 Jahren nur knappe 10 Prozent CO2 einsparen konnte, was im Vergleich zur Gesamtreduktion in diesem Zeitraum von ca. 39 Prozent deutlich weniger ambitionierter ausfällt.
6. Und nun?
Uns muss klar sein, dass wir die Zusagen, die wir der Weltgemeinschaft im Rahmen unserer CO2-Bilanz gemacht haben, mit einem „weiter so“ nicht einhalten können (vgl. Abb. 5).
Abb. 5: Zusagen Deutschland zu CO2 Emission (Quelle: Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz 2022)
Die Zusagen verpflichten uns, bis zum Jahr 2030, also innerhalb der kommenden 7,5 Jahre, unseren CO2-Ausstoß im Verkehrssektor mehr als zu halbieren, um die Ziele einhalten zu können. Eine CO2-Neutralität wurde zunächst für das Jahr 2050 versprochen, dann aber – wohlgemerkt ohne große Einsparerfolge und nach mehrfacher Verfehlung der jährlichen Emissionsgrenzen – auf das Jahr 2045 verkürzt. Hiervon sind wir jedoch noch weit entfernt.
Deshalb diskutieren wir die Verkehrswende, die es schaffen muss, hier eine deutliche Reduktion des CO2-Ausstoßes bewirken zu können. Zu den Hebeln müssen Push- wie Pull-Maßnahmen zählen. Das Bundesumweltamt hat hierzu acht Bausteine für eine wirkungsvolle Steuerung herausgearbeitet (vgl. Abb. 6). Jeder der Punkte ist streitbar und verdeutlicht, dass diese Veränderung nicht geräuschlos von statten gehen wird.
Ein Fazit
Besonders bei den restriktiven Push-Maßnahmen, wie Tempolimit oder Parkraumbewirtschaftung, müssen wir in den kommenden Jahren sehr viel schneller und konfliktfähiger werden. Die Sorge, das könnte unsere Gesellschaft spalten, ist berechtigt. Deshalb werden Narrative erforderlich, die die angesetzten Maßnahmen nachvollziehbar erläutern. Gleichzeitig müssen wir eine größere Durchsetzungskraft entwickeln, die bei intelligent geführten Beteiligungsverfahren beginnt und bei klug realisierten Verkehrsversuchen nicht enden darf.
Abb. 6: Bausteine für einen klimaverträglichen Verkehr (Eigene Darstellung nach Umweltbundesamt, 6/2023)
Autor: Dipl.-Ing. Konrad Rothfuchs, Geschäftsführer und Mitinhaber von Argus Stadt und Verkehr Partnerschaft mbB, Hamburg, und Vize-Präsident der Hamburgischen Ingenieurkammer-Bau
Der Beitrag wurde ebenfalls im Deutschen Ingenieurblatt 7-8/2023 veröffentlicht.
(1) Sobek, Werner: non nobis – über das Bauen in der Zukunft, Band 1: Ausgehen muss man von dem, was ist, 3. Auflage, Stuttgart, Deutschland: avedition, 2022; Friedrich, Markus: „Maßnahmenbereiche zur Einhaltung der CO2-Minderungsziele und deren Wirkungspotenziale“, Vortrag im Rahmen der FGSV-Tagung 2022 in Dortmund, Dortmund, 2022
(2) Laftif, Mojib: Countdown, unsere Zeit läuft ab – was wir der Klimakatastrophe noch entgegensetzen können, Deutschland, Freiburg, Verlage Herder, 2022
(3) Deutscher Bundestag: Entwicklung des globalen Waldbestandes in den letzten zehn Jahren, WD 5: Wirtschaft und Verkehr, Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz, Online-Publikation, 2019
Titel: (c) Fons Heijnsbrock/unsplash
Foto Konrad Rothfuchs (c) Roman Pawlowski